Was ist der Tao Te Ching?
Der Tao Te Ching (auch Daodejing genannt) ist ein chinesischer Weisheitstext, der Laozi (Lao-Tse) zugeschrieben wird und vor etwa 2500 Jahren entstanden ist. Er besteht aus 81 kurzen Kapiteln und bildet die Grundlage des Taoismus, einer chinesischen Philosophie und Religion.
Die Grundideen
- Das Tao (der Weg): Eine unsichtbare, namenlose Kraft, die allem zugrunde liegt und nicht vollständig mit Worten beschrieben werden kann
- Wu-Wei: „Nicht-Handeln“ oder „müheloses Handeln“ – handeln im Einklang mit der Natur, ohne zu erzwingen
- Yin und Yang: Die Einheit der Gegensätze, alles enthält seinen Gegensatz
- Einfachheit: Zurück zur natürlichen Einfachheit kehren
Die Kapitel in einfacher Sprache
Kapitel 1: Der unbenennbare Weg
Das wahre Tao kann nicht in Worte gefasst werden. Namen können die ewige Wahrheit nicht erfassen. Das Namenlose ist der Ursprung des Universums. Das Benannte erschafft die Welt der Dinge.
Wer ohne Wünsche ist, sieht die tieferen Geheimnisse. Wer ständig wünscht, sieht nur die äußere Erscheinung. Diese beiden Zustände ergänzen sich. Sie sind beide geheimnisvoll und führen zum Verständnis des Wunderbaren.
Kapitel 2: Die Einheit der Gegensätze
Alles definiert sich durch seinen Gegensatz: Wenn wir etwas als „schön“ bezeichnen, erschaffen wir damit auch die Vorstellung von „hässlich“. Wenn wir etwas als „gut“ bezeichnen, erschaffen wir auch die Vorstellung von „schlecht“.
Gegensätze existieren nur in Beziehung zueinander:
- Sein und Nichtsein
- Schwer und Leicht
- Lang und Kurz
- Hoch und Tief
Der Weise handelt ohne Zwang und lehrt durch sein Sein, nicht durch Worte. Er erschafft ohne zu besitzen, gibt ohne Anerkennung zu erwarten, und wenn sein Werk vollendet ist, verweilt er nicht bei seinem Erfolg.
Kapitel 3: Einfachheit bewahren
Wenn man Überlegenheit nicht betont, entsteht kein Wettbewerb. Wenn man seltene Güter nicht übermäßig schätzt, werden die Menschen nicht stehlen. Wenn man Verlockungen nicht zur Schau stellt, bleiben die Herzen ruhig.
Der weise Herrscher:
- Sorgt für die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes
- Minimiert Begierden und Wettbewerb
- Fördert innere Stärke statt äußeres Wissen
- Regiert mit Zurückhaltung, und alles regelt sich von selbst
Kapitel 4: Das geheimnisvolle Tao
Das Tao erscheint leer, doch ist unerschöpflich. Es mildert Extreme, löst Verwirrung, dämpft Grelles und vereint alles. Es ist immer präsent, auch wenn wir es nicht sehen können. Es scheint vor allem zu existieren, was wir kennen.
Kapitel 5: Unparteilichkeit der Natur
Die Natur ist nicht sentimental; sie behandelt alles als vorübergehend. Genauso sieht der Weise alle Dinge in Perspektive, ohne emotionale Anhaftung.
Der Raum zwischen Himmel und Erde ist wie ein Blasebalg – leer, aber produktiv. Je mehr er sich bewegt, desto mehr bringt er hervor. Zu viele Worte führen zur Erschöpfung. Besser ist es, die innere Balance zu bewahren.
Kapitel 6: Die schöpferische Kraft
Der kreative Geist des Universums ist unerschöpflich. Er ist wie das Weibliche – gebärend, nährend und ewigwährend. Diese Quelle ist die Wurzel des Seins und arbeitet mühelos.
Kapitel 7: Selbstlosigkeit
Himmel und Erde dauern ewig, weil sie nicht für sich selbst existieren. Der Weise stellt sich selbst zurück und findet sich dadurch. Er gibt sein Ego auf und bewahrt seine wahre Natur. Wer nichts für sich selbst will, erfüllt seinen wahren Zweck.
Kapitel 8: Wie Wasser sein
Die höchste Güte ist wie Wasser – es nützt allen Wesen, ohne zu kämpfen, und nimmt den niedrigsten Platz ein, den andere meiden. Dies zeigt seine Nähe zum Tao.
Der Weise:
- Lebt an dem Ort, der richtig ist
- Denkt mit Tiefe
- Gibt mit Güte
- Spricht mit Wahrhaftigkeit
- Handelt zum richtigen Zeitpunkt
- Streitet nicht und bleibt daher ohne Fehler
Kapitel 9: Das Genug kennen
Besser aufhören, als ein Gefäß überzufüllen. Eine ständig geschärfte Klinge nutzt sich schneller ab. Ein Haus voller Schätze kann nicht geschützt werden. Reichtum und Stolz bringen Unglück. Wenn deine Arbeit getan ist, ziehe dich zurück – das ist der Weg des Himmels.
Kapitel 10: Einheit bewahren
Kannst du Körper und Geist vereinen, ohne dass sie sich trennen? Kannst du so natürlich atmen wie ein Neugeborenes? Kannst du klar sehen, ohne Vorurteile? Kannst du führen, ohne zu kontrollieren?
Die höchste Tugend:
- Erschaffen ohne zu besitzen
- Handeln ohne Anerkennung zu erwarten
- Führen ohne zu beherrschen
Kapitel 11: Der Nutzen der Leere
Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe eines Rades, aber das Loch in der Mitte macht das Rad nützlich. Ein Gefäß wird aus Ton geformt, aber seine Leere macht es nützlich. Wir bauen Häuser mit Wänden, aber die Öffnungen machen sie nutzbar.
Das Materielle bietet Struktur, aber das Immaterielle (die Leere) macht die Dinge nützlich.
Kapitel 12: Die inneren Sinne nähren
Zu viele äußere Reize überfordern unsere Sinne:
- Zu viele Farben blenden die Augen
- Zu viele Töne betäuben die Ohren
- Zu viele Aromen verderben den Geschmack
Jagd nach Vergnügen und seltenen Besitztümern verwirrt den Geist. Der Weise richtet sich daher nach innen und pflegt das Wesentliche statt das Oberflächliche.
Kapitel 13: Lob und Tadel gleichermaßen ansehen
Gunst und Ungnade sind gleichermaßen zu fürchten. Ehre ist ein großes Problem, ebenso wie das eigene physische Selbst.
Warum sind Gunst und Ungnade beunruhigend? Gunst ist unsicher – sie zu erhalten ist beunruhigend, sie zu verlieren ebenso. Das ist wie überrascht zu sein, ob man sie erhält oder verliert.
Warum ist das eigene Selbst ein großes Problem? Wir erleben Probleme, weil wir ein körperliches Selbst haben. Ohne Körper hätten wir keine Probleme.
Wer die Welt so schätzt wie seinen eigenen Körper, dem kann die Welt anvertraut werden.
Kapitel 14: Das geheimnisvolle Tao betrachten
Das Tao ist schwer zu erfassen:
- Schau danach – du kannst es nicht sehen
- Horch danach – du kannst es nicht hören
- Greif danach – du kannst es nicht fassen
Es ist formlos, anfanglos und endlos. Es kehrt immer wieder zum Nichts zurück. Es ist die Form des Formlosen, das Bild des Bildlosen. Es ist flüchtig und unbegreiflich.
Begegnest du ihm, siehst du nicht sein Gesicht. Folgst du ihm, siehst du nicht seinen Rücken. Doch wenn du die zeitlosen Prinzipien befolgst, kannst du die Gegenwart meistern.
Kapitel 15: Die alten Meister
Die alten Meister des Tao waren subtil, intuitiv und tiefgründig:
- Achtsam wie einer, der einen Winterfluss überquert
- Wachsam wie einer, der Gefahren fürchtet
- Zurückhaltend wie ein Gast
- Nachgiebig wie schmelzendes Eis
- Einfach wie unbearbeitetes Holz
- Offen wie ein Tal
- Undurchsichtig wie trübes Wasser
Wer kann in Stille warten, bis der Schlamm sich setzt und das Wasser klar wird? Wer kann in Ruhe bleiben, bis der richtige Moment zum Handeln kommt?
Wer das Tao bewahrt, sucht nicht nach Fülle. Da er nicht voll ist, kann er abgenutzt werden und muss nicht erneuert werden.
Kapitel 16: Rückkehr zur Quelle
Erreiche innere Leere und bewahre die Stille. Alle Dinge entstehen und vergehen. Beobachte, wie alles zur Quelle zurückkehrt.
Zur Quelle zurückkehren heißt Ruhe finden. Dies bedeutet, dem Gesetz der Natur zu folgen. Dies zu kennen bedeutet Weisheit. Wer dies nicht weiß, handelt unbesonnen.
Wer diese universelle Wahrheit kennt, ist tolerant, gerecht, weise, im Einklang mit der Natur und letztendlich eins mit dem Tao. Wer eins mit dem Tao ist, ist bis zum Lebensende ohne Gefahr.
Kapitel 17: Führung mit leichter Hand
Der beste Anführer ist jener, dessen Existenz kaum bemerkt wird. Der nächstbeste wird geliebt und gelobt. Der nächste wird gefürchtet. Der schlechteste wird verachtet.
Wenn die Führung mit leichter Hand erfolgt und die Arbeit getan ist, werden die Menschen sagen: „Wir haben es selbst geschafft.“
Kapitel 18: Wenn das Tao verloren geht
Wenn der natürliche Weg verloren geht, entstehen künstliche Tugenden wie „Güte“ und „Gerechtigkeit“. Wenn Klugheit und Intelligenz geschätzt werden, entsteht Heuchelei. Wenn familiäre Beziehungen in Unordnung geraten, werden Kindestreue und elterliche Zuneigung betont. Wenn das Land in Chaos versinkt, erscheinen „loyale Minister“.
Kapitel 19: Einfachheit zurückgewinnen
Verwirf intellektuelle Klugheit, und die Menschen werden hundertfach profitieren. Verwirf künstliche „Güte“ und „Gerechtigkeit“, und die Menschen werden zu natürlicher Familienliebe zurückfinden. Verwirf Geschicklichkeit und Profit, und Diebe werden verschwinden.
Diese äußeren Tugenden sind nicht ausreichend. Halte dich stattdessen an:
- Einfachheit zeigen
- Natürlichkeit bewahren
- Selbstsucht reduzieren
- Begierden verringern
Kapitel 20: Anders sein
Gib das Lernen auf, und Sorgen verschwinden. Wie klein ist der Unterschied zwischen „ja“ und „nein“! Wie groß ist der Unterschied zwischen „gut“ und „böse“! Was andere fürchten, muss auch ich fürchten?
Die Menge ist beschäftigt und fröhlich, als wären sie bei einem großen Fest oder beim Frühlingsausflug. Ich allein bin ruhig, ohne Anzeichen von Aufregung. Ich bin wie ein Säugling, der noch nicht lächeln kann.
Andere haben mehr als genug, ich allein scheine verloren. Ich habe das Herz eines Narren – verworren und dunkel. Die gewöhnlichen Menschen sind hell und klar, ich allein bin verwirrt und undurchsichtig.
Andere sind scharfsinnig, ich allein bin stumpf, wie die unruhige See oder der rastlose Wind. Alle haben ihre Ziele, ich allein bin eigensinnig wie ein Außenseiter. Ich bin anders als andere – ich schätze die Nährung durch die Mutter Natur.
Kapitel 21: Das unsichtbare Tao folgen
Der große Charakter folgt allein dem Tao. Das Tao ist flüchtig und unklar – in dieser Dunkelheit und Schattenaftigkeit liegen Bilder, Dinge und eine tiefe Essenz. Diese Essenz ist sehr real und enthält Vertrauen.
Von alters her bis heute ist der Name des Tao nie verschwunden. Durch ihn können wir den Ursprung aller Dinge betrachten.
Kapitel 22: Die Rückkehr zur Ganzheit
Das Unvollkommene wird vollkommen werden. Das Gebogene wird gerade werden. Das Leere wird gefüllt werden. Das Abgenutzte wird erneuert werden. Wer wenig hat, wird gewinnen. Wer viel hat, wird verwirrt sein.
Der Weise umfasst die Einheit und wird zum Vorbild für die Welt. Er stellt sich nicht zur Schau, also wird er gesehen. Er drängt sich nicht auf, also wird er anerkannt. Er prahlt nicht, also wird sein Wert geschätzt. Er streitet nicht, also kann niemand mit ihm streiten.
Das alte Sprichwort „Das Unvollkommene wird vollkommen“ ist keine leere Phrase. Wahre Vollkommenheit ist die Rückkehr zur Einheit.
Kapitel 23: Mit dem Tao im Einklang
Wenige Worte entsprechen der Natur. Ein Sturm hält nicht den ganzen Morgen an, ein Regenguss nicht den ganzen Tag. Selbst Himmel und Erde können nicht ewig in einem Zustand verharren – wie viel weniger der Mensch!
Wer dem Tao folgt, wird eins mit dem Tao. Wer der Tugend folgt, wird eins mit der Tugend. Wer dem Verlust folgt, wird eins mit dem Verlust. Wer mit dem Tao im Einklang ist, wird vom Tao willkommen geheißen. Wer mit der Tugend im Einklang ist, wird von der Tugend willkommen geheißen. Wer mit dem Verlust im Einklang ist, wird vom Verlust willkommen geheißen.
Wenn das Vertrauen unzureichend ist, entsteht Misstrauen.
Kapitel 24: Übermäßigkeit vermeiden
Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht sicher. Wer mit gespreizten Beinen läuft, kommt nicht weit. Wer sich selbst zur Schau stellt, leuchtet nicht. Wer sich selbst behauptet, wird nicht beachtet. Wer sich selbst lobt, erhält keinen Ruhm. Wer sich selbst erhöht, wird nicht geachtet.
Vom Standpunkt des Tao sind solche Dinge wie „überschüssige Nahrung und unnötige Handlungen“ – sie werden abgelehnt. Daher vermeidet sie, wer dem Tao folgt.
Kapitel 25: Der Ursprung aller Dinge
Es gab etwas Formloses vor der Erschaffung von Himmel und Erde – still, grenzenlos, allein stehend und unveränderlich. Es bewegt sich im Kreis ohne zu ermüden. Es kann als die Mutter des Universums betrachtet werden.
Ich weiß seinen Namen nicht und nenne es „Tao“. Gezwungen, es zu beschreiben, würde ich es „groß“ nennen. Groß bedeutet fortwährend, fortwährend bedeutet fern reichend, fern reichend bedeutet zurückkehrend.
So ist das Tao groß, der Himmel groß, die Erde groß und auch der Mensch groß. Im Universum gibt es vier Große, und der Mensch ist einer von ihnen.
Der Mensch folgt der Erde, die Erde folgt dem Himmel, der Himmel folgt dem Tao, und das Tao folgt seiner eigenen Natur.
Kapitel 26: Schwere und Leichte
Das Schwere ist die Wurzel des Leichten. Die Ruhe ist der Meister der Bewegung.
Daher verlässt der Weise nie sein schweres Gepäck, selbst bei flüchtigen Anblicken von Schönheit. Warum sollte der Herr von zehntausend Wagen leichtfertig durch das Reich reisen?
Wer leichtfertig handelt, verliert die Wurzel. Wer unruhig ist, verliert die Kontrolle.
Kapitel 27: Meisterschaft im Leben
Ein guter Wanderer hinterlässt keine Spuren. Ein guter Redner macht keine Fehler. Ein guter Rechner braucht keine Hilfsmittel. Ein guter Torverschließer braucht keine Riegel, und niemand kann das Tor öffnen. Ein guter Binder braucht keine Seile, und niemand kann die Bindung lösen.
Der Weise sorgt gleichermaßen für alle Menschen und verwirft niemanden. Er sorgt gleichermaßen für alle Dinge und verwirft nichts. Dies nennt man „dem Licht folgen“.
Ein guter Mensch ist der Lehrer der nicht-guten Menschen. Ein nicht-guter Mensch ist das Material, mit dem der gute Mensch arbeitet. Wer seinen Lehrer nicht wertschätzt oder sein Material nicht liebt, ist trotz seiner Intelligenz tief verwirrt. Dies ist eine wesentliche Subtilität.
Kapitel 28: Zu den Ursprüngen zurückkehren
Erkenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche – sei wie ein Bach für die Welt. Als Bach für die Welt verlässt dich die ewige Kraft nicht, und du kehrst zum Zustand der Kindheit zurück.
Erkenne das Helle, aber bewahre das Dunkle – sei ein Vorbild für die Welt. Als Vorbild für die Welt wird die ewige Kraft nicht fehlgehen, und du kehrst zum Grenzenlosen zurück.
Erkenne die Ehre, aber bewahre die Demut – sei ein Tal für die Welt. Als Tal für die Welt ist die ewige Kraft ausreichend, und du kehrst zur natürlichen Einfachheit zurück.
Wenn das Einfache zerlegt wird, entstehen Werkzeuge. Der Weise nutzt sie als Führungsinstrumente. Daher zerschneidet ein großer Schneider nicht.
Kapitel 29: Nicht eingreifen
Wer die Welt erobern und manipulieren will, wird scheitern. Die Welt ist ein heiliges Gefäß und kann nicht manipuliert werden. Wer manipuliert, ruiniert sie. Wer festhält, verliert sie.
In der Natur:
- Manche Dinge führen, andere folgen
- Manche atmen sanft, andere stark
- Manche sind stark, andere schwach
- Manche unterstützen, andere fallen
Daher vermeidet der Weise Extreme, Extravaganz und Überheblichkeit.
Kapitel 30: Gewalt vermeiden
Wer durch das Tao regiert, zwingt die Welt nicht mit Waffen. Solche Dinge kehren oft zum Urheber zurück. Wo Armeen gewesen sind, wachsen Dornen. Nach großen Kriegen folgen Jahre des Mangels.
Ein guter Anführer erreicht sein Ziel und hält inne. Er wagt nicht, durch Gewalt zu herrschen. Er erreicht sein Ziel ohne Stolz, ohne zu prahlen, ohne Arroganz und nur wenn nötig.
Dinge, die ihren Höhepunkt erreichen, beginnen zu verfallen. Dies widerspricht dem Tao und was dem Tao widerspricht, endet früh.
Kapitel 31: Waffen als letztes Mittel
Gute Waffen sind Instrumente des Unheils, von allen gehasst. Daher meidet sie, wer dem Tao folgt.
Im Frieden schätzt der Edle die linke Seite (Zivilität), im Krieg die rechte Seite (Militär). Waffen sind Instrumente des Unheils, nicht die Werkzeuge des Edlen. Er nutzt sie nur, wenn es unvermeidlich ist, und Frieden bleibt sein höchstes Ziel.
Wer Freude am Töten findet, kann nicht den Willen der Welt erfüllen. Bei glücklichen Anlässen wird die Linke bevorzugt, bei Trauerfällen die Rechte. Der Sieg im Krieg sollte wie eine Trauerfeier behandelt werden.
Kapitel 32: Wenn das Tao herrscht
Das ewige Tao hat keinen Namen. Obwohl es in seiner Einfachheit unscheinbar erscheint, kann niemand in der Welt es beherrschen. Würden Herrscher es bewahren, würden alle Dinge sich natürlich entwickeln.
Himmel und Erde würden in Harmonie sein, und die Menschen würden ohne Befehle ihren Teil erfüllen. Als Institutionen entstanden, kamen Namen. Man sollte wissen, wann man aufhören muss. Zu wissen, wann man aufhören muss, vermeidet Gefahr.
Das Tao in der Welt ist wie Flüsse, die ins Meer fließen – alles fließt natürlich dorthin.
Kapitel 33: Selbsterkenntnis
Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist erleuchtet. Wer andere besiegt, hat Kraft. Wer sich selbst besiegt, ist stark.
Wer zufrieden ist, ist reich. Wer entschlossen handelt, hat Willenskraft. Wer seinen Platz nicht verliert, ist beständig. Wer selbst im Tod fortbesteht, lebt wahrhaft.
Kapitel 34: Das allgegenwärtige Tao
Das große Tao fließt überall, kann links oder rechts sein. Alle Dinge verdanken ihm ihre Existenz, und es versagt niemandem. Es vollbringt sein Werk, beansprucht aber keinen Besitz. Es kleidet und nährt alle Wesen, ohne ihr Herr zu sein.
Da es ohne Begierden ist, kann es gering genannt werden. Da alle Dinge zu ihm zurückkehren, ohne dass es herrscht, kann es groß genannt werden. Es wird groß, gerade weil es nicht nach Größe strebt.
Kapitel 35: Das Tao erfahren
Wer das große Bild festhält, zu dem kommt die Welt – sicher, friedlich und im Überfluss. Musik und gutes Essen mögen vorübergehende Gäste anlocken.
Das Tao, wenn man es beschreibt, scheint fade und geschmacklos. Man kann es nicht sehen, nicht hören, nicht verbrauchen – und doch ist es unerschöpflich in seinem Nutzen.
Kapitel 36: Das Gesetz der Umkehrung
Was du zusammenziehen willst, musst du erst richtig ausdehnen. Was du schwächen willst, musst du erst stärken. Was du aufgeben willst, musst du erst fördern. Was du nehmen willst, musst du erst geben.
Dies ist subtile Einsicht: Das Weiche und Schwache überwindet das Harte und Starke. Wie ein Fisch nicht aus der Tiefe steigen sollte, sollte ein Land seine Stärke nicht zur Schau stellen.
Kapitel 37: Einfachheit praktizieren
Das Tao handelt nicht, und doch wird alles getan. Wenn Herrscher es bewahren könnten, würden alle Dinge sich natürlich wandeln. Wenn Begierden entstehen, sollten sie durch die namenlose Einfachheit beruhigt werden.
Ohne Begierden kommt Stille, und die Welt regelt sich von selbst.
Kapitel 38: Über Tugend
Die höchste Tugend ist nicht bewusst tugendhaft, daher ist sie wahre Tugend. Die niedere Tugend handelt bewusst tugendhaft, daher fehlt ihr wahre Tugend.
Die höchste Tugend handelt ohne Absicht. Die niedere Tugend handelt mit Absicht. Die höchste Menschlichkeit handelt, aber ohne Absicht. Die höchste Gerechtigkeit handelt, aber mit Absicht. Die höchste Etikette handelt, und wenn niemand reagiert, wird sie erzwungen.
So folgt nach dem Verlust des Tao die Tugend. Nach dem Verlust der Tugend folgt die Menschlichkeit. Nach dem Verlust der Menschlichkeit folgt die Gerechtigkeit. Nach dem Verlust der Gerechtigkeit folgt die Etikette.
Etikette ist die äußere Hülle von Loyalität und Vertrauen und der Beginn der Unordnung. Vorauswissen ist eine Blüte des Tao, aber oft der Beginn der Torheit.
Daher bleibt der Weise bei der Substanz, nicht bei der Oberfläche, bei der Frucht, nicht bei der Blüte. Er verwirft das eine und wählt das andere.
Kapitel 39: In Einheit leben
Von alters her haben diese die Einheit erlangt:
- Der Himmel erlangte Einheit und wurde klar
- Die Erde erlangte Einheit und wurde stabil
- Die Geister erlangten Einheit und wurden kraftvoll
- Die Täler erlangten Einheit und wurden voll
- Alle Wesen erlangten Einheit und leben
- Herrscher erlangten Einheit und wurden Vorbilder
All dies wurde durch Einheit erreicht.
Ohne Klarheit könnte der Himmel zerbrechen. Ohne Stabilität könnte die Erde beben. Ohne Kraft könnten die Geister schwinden. Ohne Fülle könnten die Täler austrocknen. Ohne Leben könnten alle Wesen vergehen. Ohne Vorbilder könnten Herrscher stürzen.
Daher: Das Wertvolle hat seine Wurzeln im Gewöhnlichen. Das Hohe gründet auf dem Niedrigen. Deshalb nennen sich Herrscher „Alleinstehende“, „Verwaiste“ und „Unwürdige“ – erkennen sie nicht ihre Abhängigkeit vom Niederen?
Das höchste Ansehen ist ohne Ansehen. Strebe nicht nach glänzenden Erfolgen wie Jade, sondern sei bescheiden wie ein gewöhnlicher Stein.
Kapitel 40: Zurückkehren ist der Weg
Zurückkehren ist die Bewegung des Tao. Nachgeben ist die Methode des Tao. Alle Dinge entstehen aus dem Sein. Das Sein entsteht aus dem Nichtsein.
Kapitel 41: Die Unterschiede im Verständnis
Wenn ein weiser Mensch vom Tao hört, praktiziert er es eifrig. Wenn ein durchschnittlicher Mensch vom Tao hört, bewahrt er es manchmal und verliert es manchmal. Wenn ein törichter Mensch vom Tao hört, lacht er laut. Wenn er nicht lachen würde, wäre es nicht das Tao.
Die alten Sprüche sagen:
- Der helle Weg erscheint dunkel
- Der vorwärts führende Weg erscheint rückläufig
- Der ebene Weg erscheint rau
- Die höchste Tugend erscheint wie ein Tal
- Die reinste Reinheit erscheint befleckt
- Die umfassendste Tugend erscheint unzureichend
- Die festeste Tugend erscheint schwankend
- Das natürlichste Quadrat hat keine Ecken
- Das größte Gefäß ist am spätesten fertig
- Der größte Ton hat den leisesten Klang
- Das größte Bild hat keine Form
Das Tao ist verborgen und namenlos. Doch nur das Tao ist gut im Geben und Vollenden.
Kapitel 42: Die Entstehung und Harmonie der Gegensätze
Das Tao erzeugt Eins. Eins erzeugt Zwei. Zwei erzeugt Drei. Drei erzeugt alle Dinge. Alle Dinge tragen das Yin (Dunkel) und umfassen das Yang (Hell). Diese gegensätzlichen Kräfte vereinen sich und schaffen Harmonie.
Was Menschen ablehnen – „alleinstehend“, „verwaist“, „unwürdig“ sein – nehmen Herrscher als Titel an. So können Dinge durch Verlust gewinnen und durch Gewinn verlieren.
Was andere lehren, lehre auch ich: „Wer Gewalt anwendet, findet kein gutes Ende.“ Dies ist die Grundlage meiner Lehre.
Kapitel 43: Das Weichste überwindet das Härteste
Das Weichste in der Welt überwindet das Härteste. Das Nichtseiende kann sogar in das Dichteste eindringen. Daran erkenne ich den Wert des Nicht-Handelns.
Die Lehre ohne Worte und der Wert des Nicht-Handelns – nur wenige in der Welt erreichen dieses Verständnis.
Kapitel 44: Zufriedenheit finden
Was ist dir näher – dein Name oder dein Körper? Was ist dir mehr wert – dein Körper oder dein Besitz? Was ist schlimmer – zu gewinnen oder zu verlieren?
Extreme Liebe führt zu großen Kosten. Viel anhäufen führt zu schwerem Verlust. Wer Zufriedenheit kennt, kennt keine Schande. Wer weiß, wann er aufhören muss, vermeidet Gefahr und kann lange bestehen.
Kapitel 45: Wahre Vollkommenheit
Große Vollkommenheit erscheint mangelhaft, doch ihr Nutzen ist unerschöpflich. Große Fülle erscheint leer, doch ihr Nutzen versagt nie.
Große Geradheit erscheint gebogen. Große Geschicklichkeit erscheint ungeschickt. Große Beredsamkeit erscheint zögerlich.
Bewegung überwindet Kälte. Stille überwindet Hitze. Klarheit und Stille sind die Grundlagen für die Welt.
Kapitel 46: Genügsamkeit
Wenn die Welt dem Tao folgt, werden Rennpferde zum Düngen der Felder genutzt. Wenn die Welt vom Tao abweicht, werden Kriegspferde in den Vorstädten gezüchtet.
Es gibt keine größere Verfehlung als das Begehren. Es gibt kein größeres Übel als die Unzufriedenheit. Es gibt kein größeres Unglück als die Gier.
Daher: Wer mit dem zufrieden ist, was er hat, ist dauerhaft zufrieden.
Kapitel 47: Nach innen schauen
Ohne aus der Tür zu gehen, kannst du die Welt erkennen. Ohne aus dem Fenster zu schauen, kannst du den Himmel verstehen. Je weiter du reist, desto weniger verstehst du.
Der Weise versteht ohne zu reisen, erkennt ohne zu sehen und vollendet ohne zu handeln.
Kapitel 48: Nicht-Handeln
Beim Lernen gewinnt man täglich mehr. Beim Üben des Tao verliert man täglich mehr. Man verliert und verliert, bis man beim Nicht-Handeln ankommt.
Durch Nicht-Handeln bleibt nichts ungetan. Die Welt wird gewonnen durch Nicht-Eingreifen. Wer eingreift, kann die Welt nicht gewinnen.
Kapitel 49: Der Weise und die Menschen
Der Weise hat kein starres Herz. Er macht das Herz der Menschen zu seinem Herzen. Zu den Guten ist er gut. Zu den Nicht-Guten ist er auch gut. So wird die Güte verwirklicht.
Den Ehrlichen vertraut er. Den Unehrlichen vertraut er ebenfalls. So wird das Vertrauen verwirklicht.
In der Welt bleibt der Weise zurückhaltend und mischt sein Bewusstsein mit dem der anderen. Alle Menschen richten ihre Augen und Ohren auf ihn, und er behandelt sie alle wie Kinder.
Kapitel 50: Die Wertschätzung des Lebens
Menschen gehen ins Leben und kehren zum Tod zurück. Drei von zehn folgen dem Leben, drei von zehn folgen dem Tod, und drei von zehn bewegen sich vom Leben zum Tod. Warum? Weil sie zu intensiv leben.
Wer wirklich weiß, wie man lebt, begegnet auf dem Land weder Rhinozeros noch Tiger und geht in die Schlacht ohne Rüstung oder Waffen. Das Rhinozeros findet keine Stelle für sein Horn, der Tiger keine Stelle für seine Klauen, Waffen keine Stelle für ihre Klingen. Warum? Weil ein solcher Mensch keinen Platz für den Tod hat.
Kapitel 51: Nähren ohne zu besitzen
Das Tao bringt alle Dinge hervor, die Tugend nährt sie, die Materie formt sie, die Umgebung vollendet sie. Daher verehren alle Wesen das Tao und ehren die Tugend – nicht durch Befehl, sondern natürlich.
Das Tao bringt hervor, die Tugend nährt, lässt wachsen, reift, beschützt und bewahrt. Hervorbringen ohne zu besitzen, handeln ohne zu beanspruchen, führen ohne zu beherrschen – dies ist die tiefe Tugend.
Kapitel 52: Zur Quelle zurückkehren
Die Welt hat einen Anfang – die Mutter der Welt. Wenn du die Mutter erkennst, kannst du die Kinder verstehen. Wenn du die Kinder kennst und zur Mutter zurückkehrst, bist du bis zum Lebensende ohne Gefahr.
Verschließe deine Sinne, schließe deine Tore, und dein Leben wird nicht erschöpft sein. Öffne deine Sinne, vermehre deine Aktivitäten, und du kannst nicht gerettet werden.
Das Kleine zu sehen ist Klarheit. Flexibel zu bleiben ist Stärke. Nutze das äußere Licht, kehre zum inneren Licht zurück. Bewahre dich vor Unheil – das heißt, die Ewigkeit praktizieren.
Kapitel 53: Der Seitenweg
Hätte ich etwas Weisheit, würde ich den großen Weg gehen und nur Abweichungen fürchten. Der große Weg ist einfach, doch die Menschen bevorzugen Seitenwege.
Wenn die Paläste prächtig sind, die Felder unkrautüberwuchert und die Speicher leer; wenn die Kleidung luxuriös, die Waffen scharf, Essen und Trinken im Überfluss, Besitz im Übermaß vorhanden ist – das ist Raub und Prahlerei, nicht der Weg des Tao.
Kapitel 54: Mit Tugend kultivieren
Was gut gepflanzt ist, kann nicht entwurzelt werden. Was gut umarmt wird, kann nicht weggenommen werden. Tugend, die in der Familie kultiviert wird, lebt über Generationen fort.
Kultiviere Tugend in dir selbst, und sie wird echt sein. Kultiviere sie in der Familie, und sie wird reichlich vorhanden sein. Kultiviere sie im Dorf, und sie wird dauerhaft sein. Kultiviere sie im Land, und sie wird überreich sein. Kultiviere sie in der Welt, und sie wird universell sein.
Daher: Betrachte dich selbst durch dich selbst. Betrachte die Familie durch die Familie. Betrachte das Dorf durch das Dorf. Betrachte das Land durch das Land. Betrachte die Welt durch die Welt. Woher weiß ich, wie die Welt ist? Durch dieses innere Verstehen.
Kapitel 55: Das Geheimnis der Ganzheit
Wer tiefe Tugend besitzt, ist wie ein Neugeborenes. Giftige Insekten stechen es nicht, wilde Tiere greifen es nicht an, Raubvögel attackieren es nicht. Seine Knochen sind schwach, seine Muskeln zart, doch sein Griff ist fest.
Es kennt noch nicht die Vereinigung von männlich und weiblich, doch sein Geschlecht ist vollständig – seine Lebensenergie ist auf dem Höhepunkt. Es kann den ganzen Tag schreien, ohne heiser zu werden – seine Harmonie ist vollkommen.
Harmonie zu kennen bedeutet, das Unveränderliche zu kennen. Das Unveränderliche zu kennen bedeutet Einsicht. Leben zu verbessern bedeutet Segen. Den Geist durch Willenskraft zu steuern bedeutet Stärke.
Wenn Wesen ihren Höhepunkt erreichen, beginnen sie zu altern. Dies widerspricht dem Tao – was dem Tao widerspricht, endet früh.
Kapitel 56: Geheimnisvolle Einheit
Wer weiß, spricht nicht. Wer spricht, weiß nicht. Verschließe die Öffnungen, verriegle die Tore, stumpfe die Schärfe ab, löse die Verwicklungen, mildere das Licht, werde eins mit dem Staub. Dies nennt man geheimnisvolle Einheit.
Wer dies erreicht, kann weder durch Nähe gewonnen noch durch Distanz verloren werden. Er kann weder durch Vorteil gewonnen noch durch Nachteil verloren werden. Er kann weder durch Ehre gewonnen noch durch Niedrigkeit verloren werden. Daher wird er von der Welt geehrt.
Kapitel 57: Regieren durch Einfachheit
Führe den Staat mit Rechtschaffenheit. Führe Krieg mit überraschenden Taktiken. Gewinne die Welt durch Nicht-Eingreifen. Woher weiß ich, dass dies so ist? Durch Folgendes:
Je mehr Verbote und Einschränkungen es gibt, desto ärmer wird das Volk. Je mehr scharfe Waffen die Menschen haben, desto chaotischer wird der Staat. Je mehr Tricks und Fertigkeiten die Menschen entwickeln, desto mehr seltsame Dinge geschehen. Je mehr Gesetze erlassen werden, desto mehr Diebe gibt es.
Daher sagt der Weise: Ich handle durch Nicht-Handeln, und die Menschen entwickeln sich natürlich. Ich liebe die Ruhe, und die Menschen werden von selbst rechtschaffen. Ich greife nicht ein, und die Menschen gedeihen von selbst. Ich bin ohne Begierden, und die Menschen kehren von selbst zur Einfachheit zurück.
Kapitel 58: Anpassung an den Wandel
Wenn die Regierung zurückhaltend ist, sind die Menschen unkompliziert und glücklich. Wenn die Regierung kontrollierend ist, sind die Menschen angespannt und listig.
Glück ruht auf Unglück. Unglück verbirgt sich unter Glück. Wer kann sagen, wo das eine endet und das andere beginnt? Es gibt keine festen Regeln. Das Normale kann seltsam werden. Das Gute kann ins Beunruhigende umschlagen. Die Menschen sind seit langem verwirrt.
Daher bleibt der Weise: aufrichtig, aber nicht schneidend; spitz, aber nicht verletzend; direkt, aber nicht kontrollierend; hell, aber nicht blendend.
Kapitel 59: Die Wurzeln bewahren
Um Menschen zu führen und dem Himmel zu dienen, gibt es nichts Besseres als Mäßigung. Mäßigung bedeutet, früh nachzugeben. Früh nachgeben bedeutet, Tugend anzusammeln. Mit reichlich Tugend gibt es nichts, was man nicht überwinden kann.
Wenn man alles überwinden kann, kennt niemand seine Grenzen. Wer keine Grenzen kennt, kann ein Land regieren. Wer nach den Prinzipien des Landes regiert, kann lange bestehen.
Dies nennt man tiefe Wurzeln und starken Stamm – der Weg zu langem Leben und dauerhaftem Sehen.
Kapitel 60: Seinen Platz finden
Ein großes Land zu regieren ist wie kleine Fische zu kochen – zu viel Eingreifen verdirbt sie.
Wenn das Tao die Welt regiert, verlieren böse Geister ihre Macht. Nicht dass sie keine Macht hätten, sondern ihre Macht schadet den Menschen nicht. Nicht nur schadet ihre Macht nicht, auch der Weise schadet nicht.
Da beide nicht schaden, vereint sich ihre Tugend zum Nutzen aller.
Kapitel 61: Die Kraft der Demut
Ein großes Land sollte wie ein Flussdelta sein – ein Treffpunkt für die Welt, die weibliche Kraft der Welt. Das Weibliche überwindet stets das Männliche durch Stille und Demut.
Daher: Wenn ein großes Land sich einem kleinen Land unterordnet, gewinnt es das kleine Land. Wenn ein kleines Land sich einem großen Land unterordnet, gewinnt es das große Land.
So gewinnt das eine durch Demut, und das andere gewinnt ebenfalls durch Demut. Das große Land wünscht nur, andere zu vereinen und zu pflegen. Das kleine Land wünscht nur, von anderen angenommen zu werden. Beide erhalten, was sie wünschen, wenn das Große sich unterordnet.
Kapitel 62: Die Kostbarkeit des Tao
Das Tao ist der Zufluchtsort aller Dinge, der Schatz der Guten, der Schutz der Nicht-Guten. Schöne Worte können auf dem Markt gehandelt werden. Ehrenhafte Taten können den Menschen Respekt bringen. Selbst wenn ein Mensch nicht gut ist, warum sollte man ihn ablehnen?
Daher: Wenn ein neuer Herrscher gekrönt wird oder Minister ernannt werden, bringt man ihnen Jade und Gespanne als Geschenke. Aber es ist besser, still zu sitzen und das Tao anzubieten.
Warum haben die Alten das Tao so geschätzt? Sagten sie nicht: „Wer sucht, findet; wer Fehler macht, wird vergeben“? Deshalb ist es der Schatz der Welt.
Kapitel 63: Mit Schwierigkeiten umgehen
Handle ohne zu handeln. Arbeite ohne dich anzustrengen. Schmecke ohne zu schmecken.
Betrachte das Große als klein, das Viele als wenig. Beantworte Böses mit Güte. Plane das Schwierige, solange es noch leicht ist. Tu das Große, solange es noch klein ist.
Die schwierigsten Aufgaben der Welt beginnen mit leichten Schritten. Die größten Aufgaben der Welt beginnen mit kleinen Taten. Der Weise verspricht nie Großes und kann daher Großes vollbringen.
Wer leicht verspricht, hält selten Wort. Wer vieles für einfach hält, findet vieles schwierig. Daher betrachtet der Weise alles als schwierig und findet am Ende keine Schwierigkeiten.
Kapitel 64: Achte auf die Anfänge
Was in Ruhe ist, lässt sich leicht bewahren. Was noch nicht erschienen ist, lässt sich leicht verhindern. Was zerbrechlich ist, lässt sich leicht zerbrechen. Was winzig ist, lässt sich leicht zerstreuen.
Handle, bevor es nötig wird. Bringe Ordnung, bevor Verwirrung entsteht. Ein Baum, den man kaum umfassen kann, wächst aus einem winzigen Spross. Ein neunstöckiger Turm beginnt mit einem Haufen Erde. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt.
Wer handelt, verdirbt es. Wer festhält, verliert es. Der Weise handelt nicht und verdirbt nichts. Er hält nicht fest und verliert nichts. Die Menschen scheitern oft kurz vor dem Erfolg. Sei am Ende so sorgfältig wie am Anfang, und du wirst nicht scheitern.
Der Weise strebt nach dem Nicht-Begehren, schätzt nicht das schwer Erreichbare, lernt das Nicht-Lernen und kehrt zu dem zurück, was andere übersehen. Er unterstützt den natürlichen Lauf aller Dinge und wagt nicht einzugreifen.
Kapitel 65: Die Einfachheit der Weisheit
Die alten Meister des Tao versuchten nicht, das Volk klug zu machen, sondern es einfach zu halten. Die Schwierigkeit beim Regieren entsteht, wenn das Volk zu viel weiß.
Mit Klugheit zu regieren bringt Unheil für das Land. Ohne Klugheit zu regieren bringt Segen für das Land. Diese beiden Einsichten sind ein Modell. Das stetige Verständnis dieses Modells nennt man tiefe Tugend.
Tiefe Tugend reicht weit und kehrt alles zum Ursprung zurück. So wird große Harmonie erreicht.
Kapitel 66: Durch Demut führen
Flüsse und Meere können Herrscher über hundert Täler sein, weil sie sich unter sie stellen. Daher können sie über hundert Täler herrschen.
Wer über Menschen herrschen will, muss durch seine Worte unter ihnen stehen. Wer vor Menschen führen will, muss sich selbst zurückstellen.
So kann der Weise über Menschen stehen, ohne dass sie seine Last spüren. Er kann vor ihnen stehen, ohne dass sie Schaden nehmen. Die ganze Welt ist froh, ihm zu folgen, ohne zu ermüden. Weil er nicht streitet, kann niemand mit ihm streiten.
Kapitel 67: Die drei Schätze
Alle sagen, mein Tao sei groß, scheine aber nutzlos. Gerade weil es groß ist, scheint es nutzlos. Wäre es brauchbar, wäre es längst kleinlich geworden.
Ich habe drei Schätze, die ich halte und schütze: Der erste ist Liebe und Mitgefühl. Der zweite ist Genügsamkeit. Der dritte ist, nicht zu wagen, in der Welt vorauszugehen.
Mit Liebe kann man mutig sein. Mit Genügsamkeit kann man großzügig sein. Indem man nicht wagt, voranzugehen, kann man zum Führer werden.
Heute verlassen die Menschen die Liebe und sind trotzdem tapfer, verlassen die Genügsamkeit und sind trotzdem großzügig, verlassen die Zurückhaltung und drängen nach vorne – das führt zum Tod.
Mit Liebe im Kampf siegt man. Mit Liebe in der Verteidigung ist man stark. Wen der Himmel retten will, den schützt er mit Liebe.
Kapitel 68: Mit der Welt im Einklang sein
Der gute Krieger ist nicht aggressiv. Der gute Kämpfer ist nicht wütend. Der gute Sieger kämpft nicht. Der gute Führer dient.
Dies nennt man die Tugend der Nicht-Aggression, die Fähigkeit, mit Menschen zu arbeiten, die Übereinstimmung mit dem Höchsten, wie es die Alten lehrten.
Kapitel 69: Die Kunst der Verteidigung
Im Kriegshandwerk gibt es ein Sprichwort: Ich wage nicht, zuerst anzugreifen, sondern verteidige mich. Ich wage nicht, auch nur einen Zentimeter vorzurücken, sondern weiche lieber einen Meter zurück.
Dies nennt man: Ohne Marschieren vorwärtskommen, ohne Arme drohen, ohne Feind bekämpfen, ohne Waffen die Oberhand behalten.
Es gibt kein größeres Unglück als den Feind zu unterschätzen. Wer seinen Feind unterschätzt, riskiert alles zu verlieren. Wenn gegnerische Kräfte aufeinandertreffen, siegt der, der mit Bedauern kämpft.
Kapitel 70: Einfach zu verstehen, schwer zu praktizieren
Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen und sehr leicht zu praktizieren. Doch niemand in der Welt kann sie verstehen oder praktizieren.
Meine Worte haben einen Ursprung, meine Handlungen haben einen Meister. Da die Menschen dies nicht verstehen, verstehen sie mich nicht. Die wenigen, die mich verstehen, sind kostbar.
Daher trägt der Weise grobe Kleidung, aber birgt Jade in seinem Herzen.
Kapitel 71: Die Krankheit erkennen
Das Nicht-Wissen zu kennen ist das Beste. Das Nicht-Wissen für Wissen zu halten ist eine Krankheit. Nur wenn man die Krankheit als Krankheit erkennt, kann man frei von Krankheit sein.
Der Weise ist frei von Krankheit, weil er die Krankheit als Krankheit erkennt. Darum ist er frei von Krankheit.
Kapitel 72: Selbstbewusstsein
Wenn die Menschen die Autorität nicht mehr fürchten, kommt große Autorität. Dränge nicht in ihre Häuser ein. Belaste nicht ihr Leben. Nur wenn du sie nicht belastest, werden sie nicht von dir belastet sein.
Daher kennt der Weise sich selbst, aber stellt sich nicht zur Schau. Er respektiert sich, aber verlangt keine Ehre. Er lässt jenes und wählt dieses.
Kapitel 73: Handeln ohne zu erzwingen
Wer mutig ist im Wagen, wird getötet werden. Wer mutig ist ohne zu wagen, wird leben. Von diesen beiden: eines ist vorteilhaft, eines schädlich. Was der Himmel ablehnt – wer kennt den Grund?
Der Weg des Himmels:
- Siegt nicht, aber ist gut im Siegen
- Spricht nicht, aber ist gut im Antworten
- Ruft nicht, aber die Dinge kommen von selbst
- Plant in Ruhe, aber ist gut im Planen
Das Netz des Himmels ist weitmaschig, aber es entgeht ihm nichts.
Kapitel 74: Mit Angst regieren?
Wenn die Menschen den Tod nicht fürchten, wie kann man sie mit dem Tod bedrohen? Wenn die Menschen tatsächlich den Tod fürchten und jemand handelt seltsam und wir töten ihn, wer würde noch wagen, so zu handeln?
Es gibt stets einen obersten Henker, der tötet. An Stelle des Henkers zu töten ist wie an Stelle des Meisters Holz zu schneiden. Wer an Stelle des Meisters Holz schneidet, verletzt sich meist die Hand.
Kapitel 75: Die Bürde der Steuern
Das Volk hungert, weil seine Herrscher zu viele Steuern verzehren. Darum hungert es. Das Volk ist schwer zu regieren, weil seine Herrscher zu viel tun. Darum ist es schwer zu regieren. Das Volk nimmt seinen Tod leicht, weil es so intensiv nach Leben strebt. Darum nimmt es den Tod leicht.
Nur wer nicht übermäßig für sein Leben arbeitet, ist weiser als jene, die das Leben zu hoch bewerten.
Kapitel 76: Flexibilität ist Stärke
Bei der Geburt ist der Mensch weich und biegsam, im Tod hart und steif. Pflanzen sind bei ihrem Wachstum zart und biegsam, bei ihrem Absterben trocken und brüchig.
Daher sind das Harte und Starre Gefährten des Todes, das Weiche und Biegsame Gefährten des Lebens. Eine unbiegsame Armee wird nicht siegen. Ein unbiegsamer Baum wird brechen.
Das Harte und Starke steht unten. Das Weiche und Flexible steht oben.
Kapitel 77: Der Weg des Himmels
Der Weg des Himmels ist wie das Spannen eines Bogens: Was oben ist, wird herabgedrückt; was unten ist, wird hochgezogen. Was zu viel hat, wird verringert; was zu wenig hat, wird ergänzt.
Der Weg des Himmels nimmt vom Überfluss und gibt dem Mangel. Der Weg der Menschen ist anders: Sie nehmen von denen, die zu wenig haben, um denen zu geben, die bereits zu viel haben.
Wer kann seinen Überfluss der Welt geben? Nur wer das Tao verkörpert. Der Weise wirkt ohne Anspruch, vollendet sein Werk ohne zu verweilen und wünscht nicht, seine Weisheit zur Schau zu stellen.
Kapitel 78: Die Sanftheit des Wassers
Nichts in der Welt ist weicher und schwächer als Wasser. Doch um Hartes und Starkes anzugreifen, kann nichts es übertreffen. Nichts kann seinen Platz einnehmen.
Dass das Schwache das Starke besiegt und das Weiche das Harte überwindet – jeder kennt diesen Grundsatz, doch niemand vermag danach zu handeln.
Daher sagt der Weise: Wer die Schande des Landes auf sich nimmt, kann der Herr des Landes sein. Wer die Unglücke des Landes auf sich nimmt, kann der König der Welt sein. Wahre Worte erscheinen oft paradox.
Kapitel 79: Frieden halten
Wenn ein großer Streit beigelegt ist, bleibt immer ein Rest von Groll. Wie kann das gut sein? Der Weise hält seinen Teil der Vereinbarung ein und fordert nichts von anderen.
Wer Tugend hat, achtet auf Vereinbarungen. Wer keine Tugend hat, achtet nur auf seinen Vorteil. Der Weg des Himmels ist unparteiisch; er ist immer auf der Seite des Guten.
Kapitel 80: Die ideale Gesellschaft
In einem kleinen Land mit wenigen Menschen könnten fortschrittliche Werkzeuge ungenutzt bleiben. Die Menschen könnten den Tod ernst nehmen und nicht weit reisen. Obwohl es Transportmittel gäbe, würde niemand sie benutzen. Obwohl es Waffen gäbe, würde niemand sie zur Schau stellen. Die Menschen könnten zur einfachen Kommunikation zurückkehren.
Ihre Nahrung wäre wohlschmeckend, ihre Kleidung schön, ihre Wohnungen friedlich und ihr Leben freudig. Benachbarte Gemeinschaften könnten in Sichtweite sein, und man könnte die Hähne und Hunde hören, doch die Menschen würden alt werden und sterben, ohne den Wunsch, sich gegenseitig zu besuchen.
Kapitel 81: Das wahre Wesen
Wahre Worte sind nicht schön. Schöne Worte sind nicht wahr. Wer gut ist, argumentiert nicht. Wer argumentiert, ist nicht gut. Der Weise ist nicht gelehrt. Der Gelehrte ist nicht weise.
Der Weise häuft nichts an. Je mehr er für andere tut, desto mehr hat er selbst. Je mehr er anderen gibt, desto reicher wird er.
Der Weg des Himmels nützt und schadet nicht. Der Weg des Weisen ist zu wirken ohne zu streiten.
Schreibe einen Kommentar